Herzensangelegenheiten – 25 Jahre Deutsche Einheit

Her|zens|an|ge|le|gen|heit, die: etwas, was für jemanden ganz persönlich von großer Wichtigkeit ist, was jemandem besonders am Herzen liegt.

In dieser Rubrik erzählen Mitglieder der Aachener SPD, was sie bewegt und was sie beschäftigt. Manchmal mit einem konkreten Anlass, manchmal auch ohne.

„Herzensangelegenheiten“ vermitteln einen Einblick in unsere persönlichen Gedanken, Vorstellungen und Motivation, warum wir uns engagieren und wofür. Wir schreiben über gesellschaftliche Ereignisse, Anliegen und Ideen, die uns wichtig sind, die uns begleiten – unsere Herzensangelegenheiten.

Den Anfang macht unsere Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt, die anlässlich des 25. Jahrestags der Deutschen Einheit von ihren Erinnerungen erzählt.

Viel Spaß beim Lesen!

 

Es gibt Ereignisse, an die sich alle erinnern können. Wo man war, was man gemacht hat, wie man davon erfahren hat.

Als am 13. August 1961 mit dem Mauerbau begonnen wurde, war ich in Bayern bei meinem Onkel und meiner Tante. An dem Tag war meine Mutter nachgekommen und wir hatten vor, etwas Schönes zu unternehmen. Stattdessen saßen die Erwachsenen den ganzen Tag ununterbrochen vor dem Radio. Uns Kindern erschien Berlin unheimlich weit weg und eine Mauer wie ein überwindbares Hindernis, die Erwachsenen befürchteten einen erneuten Krieg.

Doch schon bald kehrte für uns die Normalität zurück. Wir hatten keine Familie in der damaligen DDR und deshalb sehr wenig Kontakt und Bezug zu den Geschehnissen dort. Erst Ende der 1970er-Jahre nahm ich die Ereignisse hinter dem Eisernen Vorhang wieder bewusster wahr. Glasnost, Perestroika und Solidarność – der Beginn des Umbruchs verbarg sich hinter diesen drei Begriffen: Transparenz, Umgestaltung und Solidarität.

Fasziniert beobachtete ich, was in Osteuropa und auch in der DDR geschah: Es war das Volk, das aufbegehrte gegen Unfreiheit, für Demokratie und Bürgerrechte – und das völlig friedlich. Leipzig, Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Rostock, Potsdam und Schwerin. Schon bald war klar: Hier geschieht etwas Historisches.

Dennoch war ich überrascht, als die Mauer fiel. Am 9. November 1989 fand abends die Sitzung meines SPD-Ortsvereins Richterich statt. In der Kneipe gab es keinen Fernseher und kein Radio. Ohne Handys, Tablets und Internet bekamen wir während u­nserer politischen Diskussionen nichts von der Außenwelt mit.

Ich kam also völlig ahnungslos nach Hause. „Mama, Mama, die Mauer ist gefallen!“ Ich glaubte meiner Tochter kein Wort. Erst als ich die Bilder im Fernsehen sah, sickerte die Erkenntnis durch: Die Welt, so wie ich sie kannte, gab es nicht mehr. All das, was unsere Gesellschaft, unseren Alltag und unser Zusammenleben in der Bundesrepublik ausgemacht hatte, war verschwunden und musste völlig neu definiert werden. Es war etwas eingetreten, was wir alle für nicht möglich gehalten hatten.

Bei den Fernsehbildern musste ich an die Bilder in den Wochen zuvor denken. An die Menschen in den Botschaften und auf den Straßen. An die Wut und die Verzweiflung. Und jetzt lagen sich völlig Fremde freudestrahlend in den Armen. Mit ausgestreckten Händen wurde einander über die Mauer geholfen. Vor einigen Wochen erst haben wir ähnliche Bilder des Willkommens gesehen. Am Hauptbahnhof in München. Beide Male saß ich vor dem Fernseher und musste weinen. Es waren Tränen der Rührung, des Glücks und der Überwältigung.

Meine Tochter sah das ähnlich: „Mama! Da passiert gerade Geschichte. Da müssen wir hin. Davon müssen wir unseren Enkeln erzählen.“ Ich lehnte ab. Ich musste am nächsten Tag schließlich arbeiten. Also überredete meine Tochter meinen Schwager und setzte sich mit ihm ins Auto – um Geschichte zu erleben. Am nächsten Morgen rief mich meine Schwester an: „Ulla, rat mal, wer hier am Frühstückstisch sitzt?“ Es waren einfach zu viele gewesen, die hautnah dabei sein, die Teil der Geschichte werden wollten. Die Straßen nach Berlin waren völlig verstopft. Die beiden hatten im Ruhrgebiet aufgegeben, umgedreht und waren zum Frühstück wieder da.

Kurz danach fing der Bundestagswahlkampf an. Es war mein erster. Und überall waren der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung die bestimmenden Themen der Zeit. Vor allem die Menschen im Alter meiner Mutter waren tief bewegt von den Ereignissen der vergangenen Monate. Für sie war zusammengewachsen, was schon immer zusammengehört hatte.

Am 20. Dezember 1990 wurden wir vereidigt. Es war ein tolles Gefühl, Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages zu sein. Die Sitzung fand im Reichstagsgebäude in Berlin statt – und Willy Brandt eröffnete die Sitzung als Alterspräsident. Die historische Bedeutung dieser Konstellation fand ich schon damals schier unbegreiflich:

„In besonderer Verbundenheit grüße ich die Landsleute in den neuen Bundesländern, in Goethes und Schillers Thüringen, in Bachs und Leibniz´ Sachsen, in Luthers und Nietzsches Sachsen-Anhalt – wenn es das schon gegeben hätte -, in Fritz Reuters und Ernst Barlachs Mecklenburg, in Caspar David Friedrichs Vorpommern, in Schinkels und Fontanes Brandenburg, in Humboldts und Hegels nicht mehr zerklüfteten Berlin.“ Ich hatte Gänsehaut. Und ich bin mir sicher, ich war nicht die einzige.

Ich nutzte diesen Tag, um mir einen großen Wunsch zu erfüllen. Ich wollte unbedingt durch das Brandenburger Tor laufen. Es war und ist für mich Zeichen der Teilung und der Einheit zugleich. Auch nach dem Mauerfall war das Tor lange nicht wirklich zugänglich und nur einseitig einsehbar gewesen. Ehrlich gesagt, gab es auch an dem Tag nicht viel zu sehen. Es war schlammig und matschig und weit entfernt von dem Bild, was sich uns heutzutage bietet. Trotzdem gehe ich auch heute noch gerne durch das Brandenburger Tor und erinnere mich daran zurück.

Ich weiß noch genau, wie neugierig wir auf die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern waren. Ich als Öcher Mäddche aus der westlichsten Stadt Deutschlands hatte überhaupt keine Vorstellung über das Leben in der ehemaligen DDR. Das sollte sich sehr schnell ändern. Gleich zu Beginn meiner Zeit als Abgeordnete teilte ich mir das Büro mit Karl-Heinz Schröter, dem damaligen Abgeordneten aus Oranienburg und heutigen Innenminister Brandenburgs. Wir verstanden uns hervorragend – auch wenn er meinen „Mein Herz schlägt links“-Anstecker aus dem Wahlkampf misstrauisch beäugte und sich weigerte, mich mit „Genossin“ anzusprechen. Es war eine spannende Zeit.

Heute ist vieles selbstverständlich. Einerseits spricht das für die gelungene Integration. Es war kein einfacher Prozess, wie bei einer Wunde, die nur langsam und unter Schmerzen wieder zusammenwächst. Trotz aller Klischees und Witze gibt es inzwischen jedoch ein starkes „Wir“-Gefühl. Wir sind Deutsche, wir sind Europäer, wir sind Menschen, aber ob „Ossi“ oder „Wessi“ spielt kaum noch eine Rolle.

Andererseits mangelt es aus meiner Sicht häufig an gesellschaftlicher Wertschätzung dafür, wie gut wir es heute haben. Die deutsche Einheit, der Frieden und der Wohlstand sind eben nicht selbstverständlich, sondern kommen mit einer gesellschaftlichen Verantwortung. Wir müssen unsere Geschichte kennen, um unsere Zukunft gestalten zu können.

Die Einheit, die wir heute zum 25. Mal feiern, war nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch die Wiedervereinigung Europas und der ganzen Welt, die heute leider wieder durch Gewalt, Terror und Armut zerrüttet und geteilt wird. Das können und dürfen wir nicht zu lassen.

Wir sollten den heutigen Feiertag zum Anlass nehmen, um innezuhalten und uns an unsere eigenen Träume und Hoffnungen zu erinnern, die wir vor 25 Jahren mit der Wiedervereinigung verknüpft haben. Auf Freiheit, Frieden, ein besseres Leben. Ziemliche menschliche Wünsche.